musikgeragogik

Musik als Brücke in die Vergangenheit

Geschrieben von Daniel Rautenberg am 16. Dezember 2015
Kategorie: Demenz

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Die Jedermann Gruppe startet ein musikalisches Projekt mit Demenzkranken

Wer regelmäßig unter der Dusche trällert oder vielleicht sogar im Chor aktiv ist, der weiß, dass Singen einfach glücklich macht. Beim Tanzen und Musikhören finden viele von uns ihren Ausgleich zum Stress im Alltag. Und wenn eine ganz bestimmte Melodie im Radio läuft, erinnern wir uns plötzlich an lustige oder traurige Situationen zurück. „Musik ist eng mit unseren Emotionen und unserem Gedächtnis verbunden”, fasst die Musikwissenschaftlerin Marie Günther zusammen. Sie wird im Januar 2016 ein musikalisches Projekt in unseren vier Wohngemeinschaften für Demenzkranke beginnen und dabei genau auf diese Eigenschaft der Musik setzen. Was sich hinter der so genannten Musikgeragorik verbirgt und was die Bewohner der WGs erwartet, erfahrt ihr jetzt.

Mit Musik die eigenen Fähigkeiten wiederentdecken

Demenz-Kranke stehen einem schweren Schicksal gegenüber: Mit dem fortschreitenden Verlust ihrer Gedächtnis- und Orientierungsleistung drohen ihre Persönlichkeit und ihr Selbstbild zu zerfallen, oft ziehen sie sich dann in ihre eigene Welt zurück und isolieren sich von ihren Mitmenschen. Musik kann in so einem Fall nahezu Wunder bewirken, erklärt uns Marie an einem Beispiel: „Betroffene blühen beim Hören von Musik, die sie in ihrer Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter gehört und geschätzt haben, geradezu auf und singen, selbst wenn sie fast nichts mehr sprachlich artikulieren können, noch dreistrophige Lieder mit. Und das auswendig!” Warum das so ist? Sogar bei sehr fortgeschrittener Demenz gehören die frühen musikalischen Eindrücke zu den letzten Erinnerungen, die verblassen. An diesem Punkt setzt Maries Projekt, das zu der vielseitigen Disziplin Musikgeragorik gezählt werden kann, an.

Musikgeragorik bedeutet so viel wie „die Wissenschaft von der Altenbildung durch das Medium der Musik“. Aber Achtung: Bildung heißt in diesem Fall nicht, fehlendes musikalisches Wissen zu vermitteln und auf Defizite hinzuweisen – ganz im Gegenteil. Die Potenziale und Kompetenzen älterer Menschen stehen hier im Vordergrund. Über die Musik, die die Betroffenen in ihrem Leben begleitet hat und mit ihrer individuellen Lebensgeschichte eng verknüpft ist, wird eine Brücke in ihre Vergangenheit geschlagen. Das Hören, Singen oder Tanzen weckt Erinnerungen: Wer bin ich, was kann ich, was habe ich geschätzt, was hat mir Freude gemacht? Und es gibt Raum für subjektive Erfahrungen: Was kann ich noch, was kann ich wieder auffrischen oder lernen?

„Diese biografischen Musikerfahrungen sind sozusagen der Schatz jedes einzelnen Patienten, um den Blick auf seine Ressourcen und Fähigkeiten zu lenken, auch jenseits von Sprache”, beschreibt Marie den Prozess. Zusätzlich schafft das gemeinsame Singen, Tanzen, Musizieren und Hören von Musik Gefühle der Gemeinschaft, Nähe und Geborgenheit. So kann die musikgeragogische Arbeit dem ‚Auseinanderfallen‘ der Persönlichkeit entgegenwirken und das Ich stärken.

Über die musikalische Biographie zu mehr Lebensqualität

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„Es geht mir darum, den Demenzkranken durch das Musizieren wieder Selbstbewusstsein und Raum für ganz eigene Handlungen zu geben, ihre Lebensqualität und soziale Teilhabe zu verbessern und durch seelisch ausgeglichenere Patienten auch eine Entlastung der Pflegekräfte zu erreichen”, fasst Marie ihre Vorhaben zusammen. Seit einigen Wochen ist sie nun dabei, die jeweils 6-8 Bewohner der vier Demenz-WGs in langen Gesprächen – auch mit Angehörigen und Pflegern – kennenzulernen. „Die individuelle Biografie ist sozusagen der Grundstein meiner Arbeit, mein Tor zur Lebenswelt der Bewohner. Hier sehe ich, wem ich wie Gutes tun kann, wie ich sie oder ihn ansprechen kann”, erklärt Marie uns. Mit diesem Wissen kann sie dann die Gruppen zusammensetzen und mit der Konzeption der Sitzungen beginnen.

In den Sitzungen wird Marie gemeinsam mit den Bewohnern singen, im Sitzen tanzen, mit Instrumenten musizieren, aber auch malen und erzählen. Sie möchte alle Sinne ansprechen, viel Raum für Erinnerungen und Gespräche geben – und auch den Spaß nicht zu kurz kommen lassen: „Schließlich geht es um ein Gemeinschaftsgefühl, um eine sinnvolle und bereichernde Zeit mit anderen.” Die Teilnahme ist deswegen selbstverständlich freiwillig. Für bettlägerige Bewohner oder diejenigen, welche sich in der Gruppe möglicherweise unwohl fühlen, wird Marie auch Einzelsitzungen anbieten. Nach dem Start in den vier Demenz-WGs ist später auch geplant, in den Tagespflegen zu singen, zu tanzen, zu musizieren und Musik zu hören.

Zufriedene und lächelnde Gesichter

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Wenn sie über Musik redet, gerät Marie schnell ins Schwärmen, und das ist nicht anders, wenn man sie auf ihre neue Aufgabe anspricht. „Es ist doch faszinierend, wie unmittelbar man Menschen mit Musik erreichen und bewegen, ihre Stimmungen unterstreichen und verändern kann! Ich freue mich unheimlich auf bewegende Begegnungen, spannende Lebensgeschichten und auf zufriedene und lächelnde Gesichter nach dem Musizieren, dem Singen und dem Tanzen”, sagt sie zum Schluss unseres Interviews. Allen, die mehr über die Wirkung von Musik bei Demenzkranken erfahren möchten, empfiehlt sie die Reportage „Alive Inside”.

Wir bedanken uns bei Marie für ihr Engagement und wünschen ihr und unseren Bewohnern viele erfolgreiche Sitzungen!

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Marie Günther: Die 27jährige Potsdamerin hat früh beschlossen, dass die Musik und ihre vielen Facetten sie ihr ganzes Leben begleiten sollen. Sie spielt selbst mehrere Instrumente, liebt Konzertbesuche aller Art und hat nach ihrem Musikwissenschafts-Studium Theaterpädagogik-Workshops für Kinder und Jugendliche unter anderem am ATZE Musiktheater und an der Berliner Staatsoper konzipiert und geleitet. Jetzt mit älteren Menschen arbeiten zu können, sieht sie als große Bereicherung und Chance an.

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