Sexualität im Wachkoma – Interview mit Marcello Ciarrettino
Geschrieben von Johannes Schleicher am 9. Januar 2017
Kategorie: Intensivpflege
Sexualität im Wachkoma ist ein oft tabuisiertes Thema. Nichtsdestotrotz ist es sowohl für Patienten als auch für Angehörige ungemein wichtig. Patienten im Wachkoma sind "wach", sie nehmen ihre Umwelt wahr, sie haben die gleichen Bedürfnisse wie Menschen, die sich nicht in einem solchen Zustand befinden.
Neben den körperlichen Aspekten ist es vor allem notwendig, dass man sich über die rechtlichen Bedingungen des sexuellen Kontakts im Klaren ist. Wir haben dazu Marcello Ciarrettino befragt, der Geschäftsführer der BaWig GbmH Essen und Diplom-Pflegepädagoge ist. Auf dem KAI 2016 hat er einen Vortrag zum Thema Sexualität von Menschen im Wachkoma gehalten.
Was bezeichnet man als Wachkoma?
Wachkoma (bzw. das apallische Syndrom) ist ein Begriff, der sehr viele verschiedene Zustände des Bewusstseins beschreibt. Es gibt nicht "das Wachkoma an sich". Es gibt Menschen, die aufgrund einer massiven Hirnschädigung verschiedene Bewusstseinszustände durchlaufen, und die in ihrer bewussten Wahrnehmung eingeschränkt sind, die zu der Wahrnehmungsbeeinträchtigung führen.
Patienten im Wachkoma scheinen nicht auf unsere Ansprache zu reagieren. Das heißt aber nicht, dass sie nicht ansprechbar sind. Sie können mit Berührungen reagieren, aber nicht mit Sprache. Es gibt also durchaus Möglichkeiten, Kontakt mit Menschen in diesem Zustand aufzunehmen.
Marcello Ciarrettino bei einem Vortrag auf dem KAI 2015
Können Wachkomapatienten Zustimmung/Abneigung ausdrücken?
Sie können Emotionen ausdrücken. Das emotionale Bewusstsein ist jederzeit erreichbar. Die Frage ist nur, wie und ob wir dieses emotionale Bewusstsein erkennen oder darauf eingehen können.
Wie geht man sicher, nur das zu tun, was der Patient will?
Selbst wenn eine Zustimmung erahnt oder interpretiert wird – zum Beispiel anhand einer Erektion – erlaubt das nicht, eine sexuelle Handlung durchzuführen.
Es würde aber erlauben, eine sexuelle Handlung – im Sinne einer Selbstbefriedigung – zuzulassen. Ich darf jedoch selbst keine sexuellen Handlungen durchführen, weil das ein Missbrauch widerstandsunfähiger Personen wäre. Dafür bräuchte ich eine ganz klare Willensäußerung: "Ja, ich möchte Sex."
Kann der Wille zum Sex durch Gestik oder durch die Augen erfragt werden?
Definitiv nicht. Auch Bewegungen der Augen, Gesten oder verbalisierte, sexualisierte Äußerungen eines Wachkomapatienten, der schon in einer sehr hohen Remissionsphase ist, rechtfertigen das nicht. Die Patienten leben in einem Zustand, der zwar als "wach" bezeichnet werden kann – in diesem Zustand kann es aber trotzdem sein, dass das Gehirn immer noch nicht völlig funktionabel ist. Deshalb können Zeichen mit den Augen, Gestiken etc. nicht als einwandfreier Ausdruck des Willens des Patienten im Wachkoma gelten.
Sexuelle Handlungen sind dann deshalb trotzdem strafbar, weil die Patienten im Wachkoma nicht zurechnungsfähig sind.
Zur Info
Eine Remissionsphase bedeutet eine gewisse Phase, in der die Krankheitssymptome bereits nachgelassen haben. Eine hohe Remissionsphase heißt demgemäß, dass die Symptome schon weit schwächer sind als noch bei niedrigen Remissionsphasen.
Inwiefern kommt einem Wachkomapatienten Sexualität zu Gute?
Grundsätzlich ist das wie bei jedem anderen Menschen auch. Der Begriff "Sexualität" umfasst natürlich auch einen sehr breiten Rahmen. Wir reden ja nicht nur über Sex oder über den sexuellen Akt an sich, sondern auch über bloße Berührungen.
Auch Wachkomapatienten müssen die Möglichkeit haben, geliebt zu werden, etwas zu spüren, sich selbst zu spüren. Und das sollte auch nicht tabuisiert werden.
Wenn es zu Erektionen, Reibebemühungen oder Ähnlichem kommt, dann sollte man das nicht einfach wegwischen. Man sollte sich Gedanken darüber machen, welche Ausdrucksmöglichkeiten man fördern kann und was ein Mensch im Wachkoma durch den Ehepartner erleben kann.
Darf der Ehepartner sexuelle Handlungen durchführen?
Sexuelle Handlungen darf der Ehepartner auch nicht durchführen, aber er darf auch nicht vergessen, den Partner zum Beispiel einmal zu streicheln. Die Grenze ist hier sehr schwierig zu ziehen, und das braucht eine professionelle Pflege.
Man muss ganz klar entscheiden, ob es eine rein sexuell motivierte Handlung oder eine pflegerische Tätigkeit ist, dem Patienten zum Beispiel mit dem Waschlappen über die Brust zu gehen. Oder wenn er sie küsst: Ist das schon Oralsex oder ist das nur eine Zuwendung, um zu sagen "ich bin da und ich hab dich lieb"?
So etwas muss gut begleitet und definiert werden.
Dazu kann man sich dann an unsere Akademie, die BaWig, wenden. Für Angehörige und Pflegende gibt es hierzu auch eine Online-Beratungssetelle der Stiftung Leben Pur.
Angehörige müssen die Möglichkeit haben, darüber zu sprechen und sich zu sensibilisieren. Es darf nicht einfach ignoriert werden. Denn das Bedürfnis nach Körperlichkeit und Nähe ist beim Wachkomapatient genauso da wie bei jedem anderen auch. Allerdings wird das oft vergessen, weil die Krankheit in den Vordergrund gestellt wird.
Jemand ist im Wachkoma, hat aber keinen Angehörigen – was passiert dann?
Was reine Berührungen angeht, kommen die Pflegekräfte in Betracht. Das ist natürlich nicht sexuell zu verstehen. Die Berührung sollte aber auch nicht nur ein reines Waschen sein. Man kann beispielsweise basalstimulierende Waschungen oder atemstimulierende Einreibungen durchführen.
Es braucht einfach einen körperlichen Kontakt, der eine gewisse Empathie darstellt. Gerade bei denen, die keine Angehörigen haben.
Man sollte immer daran denken, dass zur Lebensgestaltung auch Berührungskonzepte dringend eingebunden werden müssen. Das wird sehr oft vergessen. Nicht nur aus therapeutischen Gründen, sondern tatsächlich, um Leben darzustellen.
Vielen Dank, Marcello, für deine Antworten!